Lössel. Hat die Frage nach Gott Unterhaltungswert? Ist es legitim, das Gespräch über theologische, psychologische und ethische Themen mit lockerer Plaudereien zu kombinieren? Jürgen Fliege hat am Freitag in Lössel bewiesen: Es geht.
Als Gesprächspartner von Thomas Reunert präsentierte sich der TV-Pfarrer, der zwölf Jahre seine eigene Sendung als Insel der Ernsthaftigkeit im Meer der belanglosen täglichen Talkshows präsentiert hat, als ein Mensch von geradezu verblüffender Offenheit, der trotzdem nur schwer zu fassen ist. Da sitzt dieser Jürgen Fliege in seinem Sessel auf der Bühne und erzählt Dinge über sich, die andere wegen ihres Peinlichkeitsfaktors nicht freiwillig über die Lippen brächten. Er outet sich als Legastheniker, der noch heute kaum fehlerfrei schreiben kann und dreimal sitzengeblieben ist. Er erinnert sich an seine erste Freundin mit 15 Jahren, die ihn wegen ihrer "nuttigen Sprache" fasziniert hat, gibt zu, dass er in seinen vielen Sendungen zwar immer wieder Wege zu alternativer Ernährung oder Medizin propagiert hat, sein eigenes Verhalten aber kaum dauerhaft geändert hat. Wie ein roter Faden zieht sich der Hinweis auf seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen ("ich bin in einer Atmosphäre derber Frömmigkeit groß geworden") durch den Abend.
Selbstbewusst schildert
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Jürgen Fliege seine ungewöhnliche Art der Seelsorge, der gedanklich nah an seinen Schäfchen sein will und die Konfrontion mit Autoritäten in Fernsehanstalten und Kirchenleitung nicht scheut. "Es liegt ganz viel Angst über der Kirche, wenn es ums Fernsehen geht", kritisiert er beispielsweise die Auswahlkriterien für das "Wort zum Sonntag". Eines seiner Ziele, das er noch erreichen will, ist ein TV-Gottesdienst der dem Medium angemessen ist: Mit großem Sinfonieorchester und allem Drum und Dran.
Überraschendes auch vom Theologen Jürgen Fliege. Der Protestant gibt zu, öfters auch zur Gottesmutter zu beten und liefert später die Begründung: "Die leibliche Mutter ist das beste Abbild Gottes für die Menschen, die Katholiken haben das besser begriffen." Den ganzen Abend über konfrontierte Thomas Reunert den TV-Pfarrer mit Begriffen, die Jürgen Fliege aus seiner Sicht erläuterte. "Liebe" ist für ihn die Imitation des Geliebten, "Hass" enttäuschte Liebe, "Trost" die beste Medizin, "Trauer" etwas, das den Menschen nach Schicksalsschlägen nicht bitter werden lässt und die Liebe zurückholt. "Freundschaft" ist laut Fliege für Männer noch wichtiger als für Frauen, weil Männer seit Urzeiten in Kampfgemeinschaften unterwegs sind.
Und natürlich wird die Frage
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nach der Existenz Gottes gestellt.
"Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht!" sagt Jürgen Fliege und erläutert gleich, was Gott tut und nicht: Er hilft uns nicht, er greift nicht ein, er hilft uns nur, unser Schicksal zu tragen."
Zum kulinarischen Aspekt des Abends bekennt Jürgen Fliege lediglich, Kartoffeln ohne Ende zu lieben. Statt sich aber in den Talkpausen über die Vorspeise "Himmel und Erde" und die anderen Gänge des vom Neuhausschen Küchenteam kreierten Menüs herzumachen, zieht er lieber von Tisch zu Tisch, spricht dort im kleinen Kreis mit den Gästen, vertieft den einen oder anderen Gedanken oder fragt die Leute nach ihren persönlichen Erfahrungen und Meinungen.
Neben dem Gaumenschmaus gibt es zwischendurch auch Labsal für die Ohren: der Gospelchor "Outta Limits" erntet für seine Lieder großen Beifall, wobei auch dabei Jürgen Fliege einer der aufmerksamsten Zuhörer ist. Als Thomas Reunert die Schlussworte spricht und Jürgen Fliege anbietet, den Gottesdienst mit dem Sinfonieorchester - wenn auch ohne Fernsehkameras - im Parktheater zu feiern, sind über vier Stunden vergangen. Vier Stunden mit einem Mann, mit dessen Thesen und Meinungen, man nicht in jedem Fall konform gehen muss, der aber viel Stoff zum Nachdenken liefert - weit über diese vier Stunden hinaus.
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